Physiotherapie ist eine medizinisch notwendige Behandlungsform, die verschiedene Anwendungsbereiche als ganzheitlicher Ansatz zum Erhalt, zur Verbesserung und zur Wiederherstellung der körperlichen Funktions- und Bewegungsfähigkeit umfasst. In der Prävention, der Therapie und der Rehabilitation kommen insbesondere die aktiven Therapieformen in Kombination mit manueller und physikalischer Therapie zur Anwendung. So können bedürfnisgerecht Verletzungen oder Krankheiten vorgebeugt, Heilungsprozesse unterstützt und das Körperempfinden, Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit sowie Koordination geschult und verbessert werden. Zur Erweiterung des therapeutischen Angebotes nutzen Physiotherapeuten vermehrt Übungsprogramme der Pilates-Methode. Das Pilates-Trainingskonzept weist viele Parallelen zu physiotherapeutischen Therapiemethoden auf und bietet den Therapeuten sowie den Patienten neue und umfangreichere Möglichkeiten einer ganzheitlich orientierten Therapiestruktur.
Die sechs Grundprinzipien der Pilates-Therapie
Joseph Pilates hat die von ihm entwickelte Übungsform (siehe hierzu die Contrology Reformer Methode) als „vollständige Koordination von Körper, Geist und Seele“ bezeichnet. Sechs Grundprinzipien liegen der Pilates-Therapie zugrunde:
- Konzentration: Aufmerksame, bewusste Wahrnehmung der Bewegungen
- Zentrierung: Kräftigung des Körperzentrums (Powerhouse)
- Kontrolle: Bewusst kontrollierte Bewegungen
- Haltung: Präzise Haltung bei der Ausführung der Übungen
- Atmung: Bewusste Atmung im Einklang mit Bewegungen
- Fluss: Fliessende, geschmeidige Bewegungen
Die Pilates-Methode ist ein systematisches, umfassendes Ganzkörpertraining, das auf einer Kombination von Kräftigungs,- Dehnungs- und Widerstandsübungen mit statischen und dynamischen sowie konzentrischen und exzentrischen Ausführungen basiert. Der Körper wird dabei als ein einheitliches Ganzes betrachtet und es werden keine isolierten Muskelgruppen trainiert. Vielmehr fördert das Pilates-Training durch besondere Übungen auf der Matte, mit Kleingeräten oder durch Verwendung eines Grossgerätes (bspw. Reformer) funktionelle Bewegungsabläufe, die allgemeine Beweglichkeit, die Kraft und die Rumpfstabilität bei zugleich sehr geringem Verletzungsrisiko. Beim Training werden gezielt die Atmung und die Bewegungen in Einklang gebracht, um eine kontrollierte, langsame und fliessende Übungsausführung zu gewährleisten sowie das Körperbewusstsein und die Wahrnehmung zu verbessern. Insbesondere die Stärkung des Körperzentrums (Powerhouse) mit der tiefen Rückenmuskulatur, der Hüft-, Bauch- und Beckenbodenmuskeln stehen im Vordergrund. Neben den Zielen der Steigerung von Kraft, Beweglichkeit, Körperkontrolle und Koordination, werden durch die kontrollierte Mobilisation der Wirbelsäule während des Pilates-Trainings die Haltung verbessert und Rückenbeschwerden positiv beeinflusst. Zur Verbesserung des Körperbewusstseins gesellt sich eine allgemeine Stoffwechselanregung sowie eine Balance körperlicher und mentaler Komponenten, die zur Entspannung beitragen, dem Stressabbau dienen und damit die Lebensqualität verbessern können.
Pilates und Physiotherapie
Obwohl Pilates kein physiotherapeutisches oder medizinisches Therapiekonzept darstellt, ähneln sich die Grundlagen sowie die Ziele der Pilates-Methode und physiotherapeutische Übungs- und Behandlungsprinzipien. Seit Beginn der 2000er Jahre finden sich in zahlreichen Physiotherapiepraxen und in entsprechenden Fach-Abteilungen vieler Kliniken zunehmend verschiedene Pilates-Angebote. Auch Fachärzte raten Patienten mit bestimmten Krankheitsbildern vermehrt zum Pilates-Training.
Doch welche Rolle und welchen Stellenwert hat Pilates in der Physiotherapie? Die Pilates-Übungen lassen sich unter fachkundiger, physiotherapeutischer Anleitung individuellen Zielen und Bedürfnissen anpassen und können so die therapeutische Versorgung verbessern und vereinfachen. Auf diese Art finden Menschen mit Erkrankungen und Einschränkungen ebenso zu ihrem persönlichen Gesundheitstraining, wie Rehabilitationspatienten, Freizeit- oder Leistungssportler. Die Erfahrung von Physiotherapeuten mit der Einbindung des Pilates-Trainings in die therapeutische Arbeit ist durchweg positiv. Im Rahmen der Physiotherapie erfährt die ursprüngliche Pilates-Methode eine moderne Interpretation und eine zielgerichtete Integration in die therapeutischen Abläufe. Die ganzheitlichen Grundprinzipien des Pilates bei der Behandlung verschiedener Erkrankungen des Bewegungsapparates werden umgesetzt und zugleich die Ansprüche der Physiotherapie erfüllt. Die Einsatzmöglichkeiten sind neben der Prävention zum Erhalt der Gesundheit und Leistungsfähigkeit sowie der Therapie akuter oder chronischer Erkrankungen ebenso die verschiedenen Phasen der Rehabilitation zur Wiedererlangung physiologischer Beweglichkeit und Belastbarkeit im Rahmen von Alltagsaktivitäten oder zum Erreichen individueller Leistungsziele. Kinder und Jugendliche können ebenso wie Erwachsene mit fachkundig angeleitetem Pilates im Rahmen ihrer sportlichen Entwicklung die Disziplinen Kraft, Ausdauer, Koordination und Beweglichkeit trainieren. Das Pilates-Training kann in der Physiotherapie bei vielen unterschiedlichen Krankheits- und Beschwerdebildern präventiv, therapeutisch und rehabilitativ eingesetzt werden und so das Leistungsspektrum der Therapeuten wertvoll erweitern.
Stand der Forschung
In der internationalen klinischen Forschung finden sich zunehmend Studien zur Wirkung und den Möglichkeiten von Pilates-Übungen in der Therapie vieler Krankheitsbilder, in der Rehabilitation, in der Prävention und im Sport. Auch wenn zumeist peer-reviews zur Qualitätssicherung fehlen, belegen Studien mit unterschiedlicher Evidenz den weitreichenden Nutzen der Pilates-Methode für alle Altersgruppen, für unterschiedliche körperliche Leistungsfähigkeiten und bei verschiedenen therapeutischen und/oder sportlichen Zielen. Insbesondere die Verringerung von Schmerzen und Einschränkungen bei Menschen mit Erkrankungen des Bewegungsapparates sind Gegenstand der Untersuchungen. Zahlreiche Studien haben die unspezifischen chronischen Rückenschmerzen und das LWS-Syndrom zum Inhalt sowie bspw. den Einfluss von Pilates auf die Überwindung von schmerzbedingten Bewegungsängsten oder zur Sturzprophylaxe. Ebenso wird die Wirksamkeit von Pilates in der neurologischen Rehabilitation bspw. bei Parkinson, Multipler Sklerose und Fibromyalgie untersucht und aufgezeigt, dass spezifische Pilates-Übungsprogramme positiven Einfluss auf Schmerzen, Körperfunktion und Lebensqualität haben. Auch bei chronischen Krankheiten (chronischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen, Diabetes Mellitus, Krebserkrankungen) kann Pilates als wirksame Massnahme zur Steigerung der körperlichen Aktivität und zur Verbesserung der Belastungstoleranz eingesetzt werden.
Weitere Studien, insbesondere hochwertige RCT-Studien (Randomized Controlled Trial), sind notwendig, um die Themen Indikation und Wirksamkeit genauer untersuchen zu können. Bisherige Erkenntnisse lassen den eindeutigen Schluss zu, dass Pilates ein hohes therapeutisches Potenzial hat und helfen kann, die Compliance der Patienten zu steigern.
Indikationen: Pilates in der Physiotherapie
Die Indikationen und Möglichkeiten zur Nutzung von Pilates in der Physiotherapie sind weitreichend und erweitern umfangreich das therapeutische Angebot. Die Auflistung einiger beispielhafter Krankheitsbilder soll deutlich machen, wie vielfältig das Pilates-Training eingesetzt werden kann. Die Pilates-Methode in der Physiotherapie bspw. bei:
- Erkrankungen des Stützapparates (HWS-, BWS- oder LWS-Syndrome)
- chronische unspezifische Rückenschmerzen
- Impingement-Syndrom
- Ischialgie
- Instabilität des ISG
- Arthrosen in Schulter-, Hüft- oder Kniegelenken
- Hypo-Mobilität der Wirbelsäule
- Hyper-Mobilität der Wirbelsäule
- Wirbelgleiten
- Sportverletzungen
- Rehabilitation postoperativ nach Bandscheiben-OP
- Rehabilitation postoperativ nach endoprothetischer Versorgung von Knie- oder Hüftgelenken
- Rehabilitation postoperativ nach Sehnen- oder Bänder-OP
- MS-Patienten
- Parkinson- Patienten
- Fibromyalgie-Patienten
- Onkologische Patienten
- Rheumatische Arthritis
- Sturzprophylaxe (Geriatrie)
- Gynäkologische / Urologische Indikation
- Prä- und postnatale Inkontinenz
- Verbesserung der Stressresistenz
- Postmenopausale Beschwerden wie Schlafqualität, Angstzustände, Depression und Müdigkeit
- Arbeitsplatzbedingte körperliche Beschwerden
- Haltungsschwächen (muskuläre Dysbalance)
- Muskelverkürzungen
Pilates im Schneesport: Prävention von Wintersportverletzungen
Schweizer Spital-Intensivstationen sind im Winter wegen einer Vielzahl an Skiunfällen stark belegt. 2019 erfasste die Suva insgesamt 14'870 Skiunfälle. Durch gezielte Übungen können sich Wintersportler auf die Piste vorbereiten. Michael Brunner, Sportlehrer und Ausbildungsleiter Polestar Pilates Schweiz von Spirit Studio in Basel, betont: "Pilates fördert gezielt die Wahrnehmung und erhöht die Kraft der lokalen Stabilisatoren. Ergänzt mit propriozeptiven Kräftigungsübungen für die unteren Extremitäten stellt dieses Training eine optimale Prävention und Vorbereitung für einen sicheren Wintersport dar."
Die Forschungsergebnisse unterstützen Brunner's Aussage; Die bei Schneesport am meisten betroffenen Körperregionen sind: Knie (30%), Kopf (14%), Schulter (11%), Daumen (8%). In einer Studie von Griffin et al. werden die 4 Kategorien von Risikofaktoren für Verletzungen beschrieben: Ausrüstung, anatomische Voraussetzungen, hormonelle und biomechanische Faktoren. Im Bereich der Biomechanik sind dies vor allem das Kraftniveau und die neuromuskuläre Kontrolle, welche als unbewusste Aktivierung der stabilisierenden Strukturen der Gelenke als Reaktion auf sensorische Reize (=Propriozeption) bezeichnet wird.
Erst das Zusammenspiel der Faktoren Kraft und neuromuskuläre Kontrolle führt zu einer guten funktionellen Gelenksstabilität. Im Statement der Hunt Valley Consensus Conference of Noncontact ACL Injuries wurde unter anderen Faktoren vor allem die Verbesserung der Körperkontrolle als Prävention vor Verletzungen genannt.
Fazit: Erweiterte, wertvolle therapeutische Möglichkeiten bei fachkompetenten Therapeuten
Die Pilates-Trainingsmethode wird seit vielen Jahren international in der Physiotherapie und im Sport mit unterschiedlichsten Zielgruppen zur Ausweitung des Therapie- und Trainingsangebotes erfolgreich angewendet. Diese Erweiterung eröffnet den Patienten aller Alters- und Leistungklassen eine weitreichendere, ganzheitliche und individuelle Therapie für eine schnellere Gesundung und eine effiziente Verbesserung der körperlichen Situation. Für die Physiotherapeuten liegen die Vorteile in einem umfangreicheren Leistungsangebot, in erweiterten therapeutischen Möglichkeiten und in einer gesteigerten Patienten-Zufriedenheit. Pilates als ganzheitliches Trainingsprogramm kann unter Anleitung fachkompetenter Physiotherapeuten oder nach Unterweisung als Heimprogramm dazu beitragen, den ganzen Körper zu trainieren und eine gesunde Balance zwischen Kraft, Stabilität, Beweglichkeit und Ausdauer zu schaffen. Neben den positiven körperlichen Einflüssen und dem vermehrten Spass an der Bewegung, sind die psychologischen Effekte der Entspannung, der Stressreduktion und der Steigerung der Lebensqualität nicht zu unterschätzen.
Pilates ist jedoch kein Allheilmittel für jeden. Bei unklaren gesundheitlichen Vorbelastungen sowie chronischen oder akuten Erkrankungen wie Entzündungen, Bandscheibenvorfällen oder Osteoporose bedingten Veränderungen der Wirbelsäule sollte vor Aufnahme des Pilates-Trainings immer ein Facharzt um Rat gefragt werden.
Der Begriff „Pilates“ ist nicht geschützt und es gibt keine verbindlichen, einheitlichen Ausbildungsrichtlinien. Rechtlich darf sich jeder „Pilates-Trainer“ oder „Pilates-Experte“ nennen und auch ohne Ausbildung ein Pilates-Studio führen. Patienten und Kunden, die Pilates in der Physiotherapie in Anspruch nehmen wollen, sollten daher bei der Auswahl eines geeigneten Therapeuten auf fundiertes Fachwissen durch eine umfangreiche, oft mehrere hundert Stunden umfassende Aus- oder Fortbildung in Pilates achten.
Die Pilates-Trainingsmethode wird seit vielen Jahren zur Ausweitung des Therapie- und Trainingsangebotes der Physiotherapie erfolgreich angewendet.
Die Indikationen und Möglichkeiten zur Nutzung von Pilates sind weitreichend und erweitern das therapeutische Angebot umfangreich.